Juristin: Seenot ist nicht erst, wenn Menschen um ihr Leben kämpfen
MiGAZIN
geschrieben von Redaktion am 11. Dezember 2019
Das private Rettungsschiff „Ocean Viking“ hat vor rund zwei
Wochen erneut Menschen aus einem Boot geborgen, die sich von
Libyen aus auf den Weg über das Mittelmeer gemacht hatten. Den
Betreibern SOS Méditerranée und „Ärzte ohne Grenzen“ wird ebenso
wie ähnlichen Organisationen immer wieder vorgeworfen, Migranten
und Flüchtlinge vor der afrikanischen Küste abzuholen oder gar als
„Taxi“ nach Europa zu fahren. Nele Matz-Lück, Professorin für
Völkerrecht mit dem Schwerpunkt internationales Seerecht an der
Universität Kiel, erklärt im Gespräch, was Seenot rechtlich
bedeutet.
Wann gilt ein Schiff oder ein Boot als in Seenot?
Nele Matz-Lück: Seenot besteht nicht erst, wenn Menschen im
Wasser um ihr Leben kämpfen, sondern wenn für Leib und Leben oder
auch das Schiff selbst oder eine Ladung von Wert unmittelbar
Gefahr droht. Es muss also nicht schweres Wetter sein, es reicht
aber auch nicht, wenn nur eine Schwimmweste fehlt. Seenot liegt
etwa vor, wenn ein Schiff total überladen ist, sodass eine kleine
Welle oder Bewegung an Bord zum Kentern reicht. Bei den Booten,
die mit Migranten und Flüchtlingen übers Mittelmeer kommen, wird
man daher fast per se einen Seenotfall annehmen müssen, weil sie
meist nicht seetüchtig sind und dadurch eine konkrete
Gefahrensituation besteht.
Wer entscheidet konkret, ob Seenot vorliegt?
Nele Matz-Lück: Normalerweise schätzt das der Kapitän des
betroffenen Schiffes ein. Die Boote der Migranten und Flüchtlinge
haben aber in der Regel keinen Kapitän. Daher muss es der Kapitän
eines anderen Schiffes, das in der Nähe ist und zu Hilfe kommen
kann, einschätzen. Das besagt das Internationale Übereinkommen zum
Schutz des menschlichen Lebens auf See. Das Seerecht gibt dagegen
keine genauen Kriterien vor, etwa die Entfernung von Land. Diesen
Beurteilungsspielraum des Kapitäns muss es geben. Denn die See ist
für Menschen ein gefährlicher Ort. Teilweise meldet auch die
Luftaufklärung über dem Mittelmeer Seenotfälle an die Leitstellen
an Land.
Welche Pflichten hat der Kapitän des anderen Schiffes?
Nele Matz-Lück: Er muss die Menschen in Seenot retten und an
einen sicheren Ort bringen. Was genau „sicherer Ort“ heißt,
bestimmt das Seerecht wiederum nicht. Auch hier hat der Kapitän
einen Ermessensspielraum. Es muss aber mehr sein als bloß
trockener Boden unter den Füßen, also ein Ort, wo nicht wieder
unmittelbar Gefahr droht durch Verfolgung, Internierung oder
Folter. Libyen ist kein solcher Ort. Diese Verpflichtungen sind
unabhängig vom Status der Geretteten, zum Beispiel als Flüchtlinge
oder Migranten ohne Einreiserecht nach Europa. Auch, ob sie sich
selbst absichtlich in Seenot gebracht haben, spielt dabei keine
Rolle. (epd/mig)