Den Behörden Beine machen: Das EuGH-Urteil zur Familien­zusammen­führung von Flüchtlingen

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Den Behörden Beine machen
Das EuGH-Urteil zur Familien­zusammen­führung von Flüchtlingen
Der Europäische Gerichtshof hat im April 2018 den Familiennachzug von
Eltern zu unbegleiteten Kindern maßgeblich erleichtert. Diese
Entscheidung stellt die europarechtswidrige Praxis der Behörden auf den
Kopf.
Von Dr. Constantin Hruschka – 4. Juni 2018
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 12. April 2018 im Urteil A und
S den Familiennachzug von Eltern zu unbegleiteten Kindern maßgeblich
erleichtert und dabei insbesondere die Frage geklärt, zu welchem
Zeitpunkt die Person unter 18 Jahre alt gewesen sein muss. In dogmatisch
überzeugender Weise arbeitet der EuGH heraus, dass auf den Zeitpunkt der
Asylantragstellung abzustellen ist. Ist also die Person unter 18 Jahre
alt, wenn sie einen Asylantrag stellt, dann ist sie für die
Familienzusammenführung auch dann als minderjährig anzusehen, wenn sie
während des Asylverfahrens volljährig wird. Dieses Urteil hat erhebliche
Auswirkungen auf die deutsche Praxis des Familiennachzugs zu
unbegleiteten Minderjährigen. Mit der Entscheidung bestätigt der EuGH
seine zunehmende grundrechtliche Orientierung in Migrationsfragen.

Recht auf Familienzusammenführung
Unbegleitete Minderjährige sind seit Jahren ein wichtiges und
wiederkehrendes Thema in der Debatte um das gemeinsame europäische
Asylsystem. In der Regel geht es dabei um verschwundene Kinder oder um
die Feststellung des Alters einer Person, die angegeben hat minderjährig
zu sein. Gleichzeitig ist die Familienzusammenführung für
Drittstaatsangehörige ein nicht nur in Deutschland kontrovers
diskutiertes Thema. Der europa- und verfassungsrechtlich äußerst
bedenkliche komplette Ausschluss der Familienzusammenführung für
subsidiär schutzberechtigte Personen in Deutschland seit dem März 2016
ist hier nur eines von vielen rechtlich wie politisch ungeklärten Themen.
Ein Bereich, der beide Themenkomplexe verbindet, ist der sog. umgekehrte
Familiennachzug, also der Nachzug von Eltern zu ihren
drittstaatsgehörigen Kindern. Das Europarecht regelt diese Frage in der
Familienzusammenführungsrichtlinie (RL 2003/86/EG). Diese sieht vor,
dass ein solcher umgekehrter Familiennachzug bei Drittstaatsangehörigen
ermöglicht werden muss, wenn das Kind unbegleitet ist und als Flüchtling
anerkannt wurde (Art. 10 Abs. 3 Buchst. a) der Richtlinie). Vor der
Entscheidung des EuGH war ungeklärt, welcher Zeitpunkt für den
Familienzusammenführungsanspruch entscheidend ist. Also anders gesagt:
Zu welchem Zeitpunkt muss die Person noch minderjährig sein, um den
Anspruch auf eine Familienzusammenführung mit den Eltern zu haben?
Der vorgelegte Fall
Das zuständige niederländische Gericht (Rechtbank Den Haag) hatte in
diesem Kontext dem Europäischen Gerichtshof eine Frage zu einem Fall
vorgelegt, in dem eine während des Asylverfahrens in den Niederlanden
volljährig gewordene eritreische Staatsangehörige nach ihrer Anerkennung
als Flüchtling beantragt hatte, dass ihre Eltern (A. und S.) sowie ihre
drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung
nachziehen dürfen. Der Anspruch auf Nachzug der Eltern hätte unstreitig
bestanden, wenn die Tochter von A. und S. noch minderjährig wäre. Da sie
aber im Laufe des Asylverfahrens volljährig wurde, war fraglich, zu
welchem Zeitpunkt die Minderjährigkeit (noch) vorliegen muss, damit der
Anspruch (weiter) besteht.
Die Eltern hatten geltend gemacht, dass es auf die Einreise ankäme,
wohingegen die EU-Kommission der Meinung war, dass auf den Zeitpunkt des
Antrags für die Familienzusammenführung abzustellen sei. Die polnische
Regierung, die in dem Rechtsstreit interveniert hat, brachte vor, es sei
auf den Zeitpunkt der Entscheidung über diesen Antrag abzustellen,
während die niederländische Regierung mangels expliziter Regelung in der
Richtlinie der Meinung war, dass es Sache des jeweiligen Mitgliedstaates
sei, diesen Zeitpunkt zu bestimmen. Das vorlegende Gericht war der
Meinung, dass grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Einreise abzustellen sei.
Die Entscheidung des Gerichts
Wie in vielen anderen Fällen betont der EuGH zuerst, dass eine
einheitliche europäische Lösung in der Regel in allen Fällen gefunden
werden muss, in denen Richtlinien nicht ausdrücklich auf das nationale
Recht verweisen. Der Gerichtshof suchte also für seine Entscheidung nach
einer „autonomen und einheitlichen Auslegung“ der fraglichen Bestimmung
(Rn. 41), aus der sich ein eindeutiger Zeitpunkt ergibt, zu dem die
Minderjährigkeit bestanden haben muss.
Dieser Zeitpunkt ist nach der Auslegung des Gerichtshofs der Zeitpunkt
der Asylantragsstellung des unbegleiteten Kindes. Zu dieser Einschätzung
kommt der Gerichtshof aus sehr grundlegenden rechtstaatlichen
Erwägungen, die er unter anderem aus dem Gleichheitsgrundsatz ableitet.
Überzeugend argumentiert der EuGH, dass es mit den Grundsätzen des
Europarechts und insbesondere mit dem besonderen Schutz von Familien und
speziell der Familieneinheit von unbegleiteten Minderjährigen nicht
vereinbar wäre, wenn in zwei gleich gelagerten Fällen der Anspruch auf
Familiennachzug davon abhinge, zu welchem Zeitpunkt die mit der
Antragsprüfung befassten nationalen Behörden und Gerichte über den
Antrag entscheiden (vgl. dazu insbesondere Rn. 56).
Darüber hinaus betont der Gerichtshof, dass der Grundsatz der
Rechtssicherheit (als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts) es
gebietet, dass für eine antragstellende Person nicht „völlig
unvorhersehbar“ sein darf, ob ein Anspruch (hier der
Familiennachzugsanspruch) besteht oder nicht (vgl. dazu Rn. 59).
Aus der weiteren Systematik des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems
leitet der Gerichtshof ferner ab, dass es nicht auf den
Einreisezeitpunkt ankommen kann, da eine Person, die Flüchtling im
völkerrechtlichen Sinne ist, aber keinen Asylantrag stellt, auch keinen
europarechtlichen Anspruch auf Familiennachzug hat, da dieser von der
Anerkennung als Flüchtling abhängig ist.
Dass trotzdem nicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den
Asylantrag abzustellen ist, begründet der Gerichtshof überzeugend mit
dem deklaratorischen Charakter der Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft. Eine Person ist aus rechtlicher Sicht bereits
Flüchtling, bevor sie als solcher anerkannt wird, daher entsteht ein
subjektives also individuelles Recht auf Zuerkennung der
Flüchtlingseigenschaft nach dem Europarecht bereits mit der
Asylantragstellung (vgl. dazu Rn. 53f.).
Gemäß der Entscheidung des EuGH ist der Anspruch davon abhängig, dass
die anspruchsberechtigte Person den Anspruch innerhalb einer
„angemessenen Frist“ geltend macht. Diese Frist lässt sich nach dem EuGH
aus Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie ableiten. Dieser ermöglicht es den
Mitgliedstaaten die Familienzusammenführung zu Flüchtlingen von weiteren
Bedingungen (wie Krankenversicherungsschutz und
Lebensunterhaltssicherung) abhängig zu machen, wenn der Antrag nicht
innerhalb von drei Monaten gestellt wird, vgl. dazu Rn. 61).
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass eine Person, die zum
Asylantragszeitpunkt unbegleitet und minderjährig war und den Anspruch
innerhalb von drei Monaten nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft
beantragt, einen Anspruch auf umgekehrten Familiennachzug hat.

Folgen der Entscheidung
Der Grundtenor der Entscheidung des EuGH ist eindeutig: Der Gerichtshof
misstraut den Mitgliedstaaten beim Schutz von Minderjährigen. Mehrfach
betont der EuGH, dass bei einer anderen Auslegung, den Mitgliedstaaten
durch verzögerte Bearbeitung der Anträge faktisch eine Möglichkeit
gegeben wäre, die Verpflichtungen aus der Richtlinie zu umgehen. Der
Gerichtshof hebt daher auch besonders hervor, dass die
Familienzusammenführungsrichtlinie einen Anspruch auf den umgekehrten
Familiennachzug für unbegleitete Minderjährige vorsieht, bei dessen
Gewährung den Mitgliedstaaten kein Ermessen zukommt. Sie müssen diesen
Anspruch gewähren, wenn die Anspruchsvoraussetzungen vorliegen. Dies
kann nur rechtsgleich und rechtssicher gewährleistet werden, wenn die
Mitgliedstaaten keinen Einfluss auf den relevanten Zeitpunkt haben.
Andernfalls könnten – so der EuGH – die Mitgliedstaaten, durch mangelnde
Ressourcenzuweisung für die Behörden und Gerichte, durch die nicht
vorrangige Behandlung von Asylanträgen von unbegleiteten Kindern oder
auch einfach aufgrund äußerer Umstände (wie einer plötzlichen Zunahme
von Asylanträgen) daran gehindert sein, ihrer Verpflichtung zum
besonderen Schutz der Familieneinheit von unbegleiteten Minderjährigen
nachzukommen. Das Misstrauen des EuGH gegenüber Mitgliedstaaten in
diesem Bereich ist groß und wohl nicht vollkommen ungerechtfertigt.

Für den deutschen Kontext bedeutet die Entscheidung, dass die bisherige
Praxis, die von einem Erlöschen des Anspruchs auf Familiennachzug mit
Erreichen der Volljährigkeit ausgeht, komplett geändert werden muss.
Bislang musste die Einreise der nachziehenden Person(en) erfolgt sein,
solange die Person noch minderjährig ist. Interessanterweise ist dieser
Zeitpunkt lediglich in Ansätzen von der niederländischen Regierung
vorgebracht worden, die die Bestimmung des Zeitpunkts den
Mitgliedstaaten überlassen wollte. Aus rechtspolitischer Sicht ist
zumindest nicht leicht nachvollziehbar, warum die Bundesregierung in
diesem Fall nicht ebenfalls interveniert hat.
Die europarechtswidrige Praxis der Behörden muss nunmehr entsprechend
korrigiert werden. Diese Korrektur muss praktisch wirksam sein. In
vielen Fällen wird dabei eine Rücknahme des rechtswidrigen Bescheids
allein nicht ausreichen. Für behördlich zu Unrecht verweigerte Nachzüge
könnte die Frage des Zeitpunkts der Stellung des Antrags auf
Familiennachzug relevant sein, da der EuGH dafür drei Monate nach
Zuerkennung des Schutzstatus für angemessen hält, ohne dass dies sich
direkt aus der Richtlinie ergeben würde. Rechtlich interessant sind auch
die Konstellationen, in denen eine Person während des Asylverfahrens
volljährig wurde und wegen der deutschen Praxis auf einen
Familiennachzugsantrag verzichtet hat. Hier könnte beispielsweise an
eine Übergangsfrist zur nachträglichen Beantragung des Familiennachzugs
gedacht werden, die verfahrensrechtlich so ausgestaltet sein müsste,
dass der Familiennachzug tatsächlich ermöglicht wird. Das bedeutet, dass
die Person beantragen sollte, so gestellt zu werden als ob ihr gerade
erst die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre und daher der
Nachzugsantrag noch rechtzeitig gestellt werden kann.
In der Sache begnügt sich der EuGH nicht allein damit, den
Mitgliedstaaten die Entscheidung über den relevanten Zeitpunkt, zu dem
die Minderjährigkeit bestehen muss, zu entziehen, um so den
Rechtsverlust durch eine verzögerte Bearbeitung von Asyl- und/oder
Familiennachzugsanträgen zu verhindern. Er betont darüber hinaus eines
der wichtigsten Grundprinzipien des Schutzes unbegleiteter
Minderjähriger: Die Asylanträge von Kindern sind vorrangig zu prüfen.
Daher müssen die Behörden die Asylverfahren in diesen Fällen besonders
schnell und effizient durchführen.
Insgesamt folgt der EuGH seiner Tendenz, die europarechtlichen
Spielräume der Mitgliedstaaten im Migrationsbereich durch eine
grundrechtskonforme und grundrechtssensible Auslegung der Bestimmungen
von Richtlinien und Verordnungen Rechnung zu tragen. Durch die Betonung
des vorrangig zu beachtenden Kindeswohls zeigt der EuGH zum wiederholten
Male den Mitgliedstaaten die grundrechtlichen Grenzen ihrer
Möglichkeiten zur restriktiven Auslegung der europarechtlichen
Regelungen zu Migration und Asyl auf. Diese Entwicklung hin zu einer
einheitlichen, an den Grundrechten  orientierten Auslegung, die
spätestens seit der Entscheidung C.K. im Asylbereich klar feststellbar
ist, kann als Fortschritt auf dem Weg zu einem grundrechtlich
unterfütterten Migrationsregime in Europa angesehen werden. Die
Entscheidung steht damit auch gegen den Trend zu einer immer
restriktiveren Politik gegenüber international Schutzberechtigten, die
sich aktuell insbesondere in den nationalen Debatten in den
Mitgliedstaaten und in den Diskussionen um die Reform des Gemeinsamen
Europäischen Asylsystems zeigt.
URL des Artikels: http://www.migazin.de/2018/06/04/das-eugh-urteil-familien-fluechtlingen/