Flüchtlingskinder: Verloren, Verraten, Vergessen!?
ZUR VERABSCHIEDUNG DER KINDERRECHTSKONVENTION AM 20.NOVEMBER 1989
Flüchtlingskinder: Verloren, Verraten, Vergessen!?
geschrieben von MIGAZIN-Redaktion am 20. November 2019
Die Verabschiedung der Kinderrechtskonvention am 20. November
1989 durch die Vereinten Nationen wurde von der Politik als
„Meilenstein“ in der Entwicklung des Völkerrechts, ihre
Ratifizierung durch den Deutschen Bundestag im April 1992 als
„Sternstunde“ für die Menschenrechte gefeiert. Erstmal wurden
Kindern und Jugendlichen grundlegende und umfassende Rechte auf
Schutz, Grundversorgung sowie Mitbestimmung und Beteiligung
garantiert. Zu den zentralen Bestimmungen der
UN-Kinderrechtskonvention gehören das absolute
Diskriminierungsverbot und der Vorrang des Kindeswohls.
Artikel 22 verpflichtet die Vertragsstaaten, Flüchtlingsschutz
suchenden Kindern die Einreise und den Aufenthalt zu gestatten und
sie in jugendhilferechtlicher Hinsicht wie einheimische (deutsche)
Kinder zu behandeln. Die damalige Bundesregierung hatte jedoch –
vor dem Hintergrund einer beispiellos aufgeheizten Asyldebatte
1991/92 im Vorfeld der Änderung des Artikels 16 GG – bei der
Ratifizierung eine Vorbehaltsklausel hinterlegt, die das Asyl- und
Ausländerrecht über die Konvention stellte. Fortan bestimmten über
fast zwei Jahrzehnte – bis zur Rücknahme der Vorbehalte im Sommer
2010 – nicht das Kindeswohl und das Prinzip des Optimums an
Förderung und Entfaltung den rechtlichen und behördlichen Umgang
Deutschlands mit Flüchtlingskindern, sondern: eingeschränkte
Rechte, reduzierte Leistungen, ein unsicherer Aufenthaltsstatus,
mangelnde Förderung und verweigerte Bildungsmöglichkeiten.
Kurze „Willkommenskultur“
In der kurzen Phase der „Willkommenskultur“ 2015 durchgeführte
Änderungen des Aufenthalts – und Asylgesetzes zur
Verfahrensfähigkeit (entgegen der bisherigen Vorschrift „erst“ mit
Vollendung des 18. Lebensjahres) und umfangreiche Erweiterungen
des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ließen kurzfristig auf eine
grundlegende Verbesserung der Lage minderjähriger Geflüchteter
hoffen.
Doch schon ab Herbst 2015 – vor dem Hintergrund
flüchtlingsfeindlicher und rassistischer Vorfälle und eines
gesellschaftlich atmosphärischen Rechtsrucks in Teilen der
Bevölkerung – versäumte es die Bundesregierung, sich deutlich auf
die Seite der Verfechter einer offenen und solidarischen
Gesellschaft zu stellen, die – wie die Mitgliedsorganisationen der
„National Coalition“, darunter PRO ASYL, terre des hommes und
viele andere – sich seit vielen Jahren für die umfassende
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in Deutschland einsetzen.
Stattdessen hat die Große Koalition mit einem repressiven Rollback
an Gesetzesverschärfungen (Asylpakete I und II, „Lex Ankerzentren“
u.a., bis hin zum „Geordnete-Rückkehr-Gesetz“, besser:
„Hau-ab-Gesetz“) „Ängste“ und Ressentiments sogenannter „besorgter
Bürger“ bedient und Populisten und der organisierten Rechten damit
noch Auftrieb gegeben.
Großer Handlungsbedarf
Insgesamt können einzelne Verbesserungen nicht darüber
hinwegtäuschen, dass die Rechte und Bedürfnisse dieser besonders
schutzbedürftigen Gruppe von Kindern und Jugendlichen in
Deutschland noch immer massiv vernachlässigt werden: Nach wie vor
leben viele geflüchtete Kinder und Jugendliche in
aufenthaltsrechtlich unsicherer Situation; beim Zugang zu Schutz
und Hilfe und bei der Wahrnehmung ihrer Rechte nach der
UN-Kinderrechtskonvention sind erhebliche rechtliche und
tatsächliche Verschärfungen zu verzeichnen; noch immer gibt es
gravierende Defizite bei behördlich angeordneten willkürlichen
Altersfiktionen, auch die Anwendung medizinisch fragwürdiger und
zweifelhafter Methoden ist nach wie vor nicht ausgeschlossen;
geflüchtete Kinder können weiterhin in Abschiebungshaft kommen;
Unterbringung und beschleunigte Verfahren in sog. Ankerzentren
gefährden ihre ungehinderte Entwicklung und Integration; die
Ablehnungen von Familienzusammenführungen für Kinder und
Jugendliche durch deutsche Behörden stellt eine schwerwiegende
Verletzung der Artikel 3, 9 und 10 der UN-Kinderrechtskonvention
dar; und nach wie vor werden unbegleitete Minderjährige an der
Grenze abgewiesen oder zurückgeschoben.
Auch 30 Jahre nach der Verabschiedung der
UN-Kinderrechtskonvention besteht ein großer Handlungsbedarf für
ihre umfassende Umsetzung in Deutschland.
Eine noch größere Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der
Menschenrechte für Kinder nach der UN-Kinderrechtskonvention
besteht in der oft tödlichen Abwehr und systematischen Ignoranz
der EU-Regierungen gegenüber den Schicksalen Tausender
Flüchtlingskinder am Rande und an den Außengrenzen Europas.
Flüchtlingskinder Europas
In der Hoffnung auf ein besseres und friedliches Leben machten
sich seit Beginn dieses Jahrhunderts Hunderttausende von
Flüchtlingskindern mit ihren Eltern, mit Verwandten oder allein
auf sich gestellt auf den Weg nach Europa. Sie flohen vor Krieg,
Gewalt, Terror und Armut. Tausende kamen bei dem Versuch, hier ein
Leben in Sicherheit führen zu können, ums Leben.
Sie ertranken im Mittelmeer, verdursteten in der Wüste, erstickten
in Lastwagen und Containern, erfroren beim Überqueren von
Gebirgspässen oder eisigen Grenzflüssen im Winter; sie starben in
den Triebwerken von Flugzeugen oder an den Strapazen der Flucht;
sie starben in Gefangenschaft, in den grausamsten Lagern Libyens;
sie wurden Opfer von Ausbeutung, Folter, Misshandlung und
Krankheiten. Tausende Kinder leben am Rande Europas in überfüllten
Flüchtlingslagern unter unmenschlichen Bedingungen, ohne Schutz
und Perspektive.
Diese Kinder sind die Flüchtlingskinder Europas, für die
europäische Staaten und Regierungen gemeinsam Verantwortung
tragen: Sie sind die unschuldigsten Opfer unverantwortlicher
„Deals“ mit nationalistischen Autokraten und der Zusammenarbeit
europäischer Regierungen mit menschenrechtlich bedenklichen
Staaten; sie sind die Opfer der Unterstützung von Warlords und
kriminellen Milizen durch die EU; sie sind Opfer einer verfehlten
deutschen und europäischen Flüchtlings- und Kinderschutzpolitik.
In Frage gestellt
Diese Politik straft den Anspruch der EU als einer
„Wertegemeinschaft“ – Europa als “Raum der Freiheit, der
Sicherheit und des Rechts“ – Lügen. Die europäische
Kinderflüchtlingsschutz-Politik stellt sich heute als grenzenlos-
brutales System der Be- und Verhinderung der Inanspruchnahme des
Asylrechts und von Schutz und Hilfe dar. Im Umgang mit der
schwächsten und schutzbedürftigsten Gruppe von Flüchtlingen, den
Flüchtlingskindern, zeigen zivilisierte Staaten, wie zivilisiert
sie wirklich sind.
Solange noch Kinder auf der Suche nach Schutz im Mittelmeer und
auf dem Weg nach Europa sterben oder in überfüllten Lagern
verelenden und dahin vegetieren, solange bleiben der
Humanitätsanspruch Deutschlands und Europas und ihre
vielbeschworenen Werte „Menschenwürde“, „Freiheit“, „Demokratie“
und „Rechtsstaatlichkeit“ gänzlich in Frage gestellt.
Kinder – und Menschenrechtsorganisationen, die demokratischen
Zivilgesellschaften Deutschlands und Europas sind gefordert, damit
die „Sternstunde“ der Kinderrechte nicht als „Sternschnuppe“
verglüht.
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